Sonntag, 25. April 2010

Caramel und die Magazine, Teil II

Ich bin mit 18 von zu Hause ausgezogen. In ein verlottertes Haus, in eine herzige Wohnung, in der ich selbst heizen musste, es war im Winter schrecklich und im Sommer grossartig, und ich fühlte mich sehr erwachsen. Zu dieser gefühlten Erwachsenheit passte nur ein Medium, das mein Bedürfnis nach Weltläufigkeit und voll Drauskommen befriedigen konnte: Die "Weltwoche". Damals noch eine grosse Zeitung, und zwar im wahrsten Sinn des Wortes, nicht nur gross im Format, sondern einfach wirklich gross-artig, mit schönen Reportagen und relevanten Politgeschichten und fundierten Auslandgeschichten. Ich liebte dieses Blatt, las es immer von Anfang bis Ende durch (bevor ich es dann benutzte, um den Ofen einzuheizen).

Ab und zu lese ich die "Weltwoche" heute noch. Lange hatte ich ihr noch die Treue gehalten, sowohl als sie plötzlich zum Magazin und damit zum Hipster-Accessoire wurde, wie auch dann, als sie schliesslich als SVP-Heftli in Verruf geriet. Mich nervte die kollektive Empörung der Korrektos, lange fand ich das Heft immer noch erfrischend, weil es sich eben nicht dem Mainstream ergab. Die rechte Rhetorik ertrug ich, schliesslich war das Blatt immer noch relevant.

Irgendwann stellte ich aber fest, dass ich immer weniger Texte in der "Weltwoche" wirklich lesen mochte. Dass darin lauter Themen behandelt wurden, die sonst schon überall abgehandelt worden waren. Dass ihre Haltung unglaublich vorhersehbar geworden war. Ich glaube, hier wäre der Gebrauch des Wortes "reaktionär" angebracht. Manchmal, wenn eine Angelegenheit gerade überall in der Presse war, spielten wir das Ratespiel: "Und welche Haltung wird die "Weltwoche" dazu haben?", und lagen fast immer richtig: hauptsache Anti-Mainstream, egal, obs Sinn macht oder nicht, egal, wie sehr man etwas konstruieren musste. (Manchmal dichteten wir auch fiktive Schlagzeilen: "Zucker ist gar nicht ungesund - die Lügen der Fitness-Mafia" etc). Die Zeitschrift hatte zunehmend etwas extrem Verkrampftes. Die besten Schreiber sprangen ab oder mussten gehen, was weiss ich, die schönen, schönen Titel, an denen ich mich früher Woche für Woche ergötzen konnte, die wir uns mit Hochgefühlen vorlasen und sehr bewunderten (ich glaube, die waren vom damaligen Textchef Ingolf Gillmann, den hat der Roger Köppel aber entlassen) verschwanden zunehmend und sind jetzt eigentlich ganz weg. Schliesslich kündigte ich mein Abonnement, wenn auch schweren Herzens.

Vergangene Woche war ich am Flughafen und hab eine "Weltwoche" gratis gekriegt. Der Flug hatte 3,5 Stunden Verspätung, und ich las die Zeitschrift so gründlich wie schon lange nicht mehr.
- Ich las einen guten Kommentar zum Fall Gaddafi.
- Ich las einen extrem konstruierten Vergleich zwischen dem Papst und dem Dalai Lama, in dem der derzeit überall kritisierte Papst (Achtung Anti-Mainstream) gelobt wird.
- Einen Scoop über die angebliche Verschwörung der bösen Bieler SP gegen den superduper Bieler FDP-Spitalsanierer.
- Eine Gletscherforschungsstory, die "die Aufregung um die Erderwärmung relativiert" ("Kaum je" nämlich "ist in Reiseberichten der Römer von Gletschern oder weissen Alpen die Rede." Aha! Beweis!)
- Eine Kritik an der geplanten Regulierung der Grossbanken ("hirnlos").
- Ein Fussballgeschichtli (vom früher mal kurzzeitigen "Blick"-Sportchef, der jetzt beim "Magazin" schreibt und als Einstand ein voyeuristisches Interview mit einer Berlusconi-Geliebten publizierte).
- Eine Verteidigungsschrift für die UBS (mit einem lustigen Bild von Grübel und Villiger).
- Ein Loblied auf Grübel.
- Eine Abrechnung mit den bösen anderen Medien, die der lieben UBS an den Karren gefahren waren.
- Ein Verris des SP-Parteiprogramms.
- Eine Geschichte über einen Solothurner Justizskandal, bei dem ein Kosovo-Albaner, der eine arme alte Frau ungebracht hat, offenbar unbehelligt davonkam.
- Einen Fernseh-Abschrieb über eine "Reporter"-Sendung, die vor W-o-c-h-e-n auf SF lief, über eine tatsächlich sehr seltsame Reaktion der Basler Integrationschefin (gut - aber spät - aufgeschnappt).
- Eine Geschichte über eine französische Fotografin, die erotische Fotos macht (ich stell mir das an der Redaktionssitzung etwa so vor: "Du, wir brauchen noch etwas Sex im Blatt! Paar Brüste! Du Bea, kannst du nicht aus ein paar Zitaten aus deutschen Magazinen etwas über diese Fotografin basteln? Die macht so Sexföteli, das gfallt unseren Lesern. Wir tun dich für diesen grossartig recherchierten Artikel dann auch vorne im Inhaltsverzeichnis als "Autorin" erwähnen, isch guet?") (Aber der Schluss des Textes ist durchaus hübsch.)
- Ein Interview mit einem "renommierten Familienforscher" und Anti-Feministen, das mich lehrt, dass sich Frauen immer so blöd als Opfer darstellen, nämlich.
- Ein Interview mit der Chefin von Chopard. Daneben, in einem anderen Artikel, im redaktionellen Teil notabene, Lob für zwei Schmuckstücke von Chopard.
- Ein "Porträt" von Eva Braun auf der Basis einer Biografie, die schon vor Monaten in allen deutschen Magazinen (allerdings kritisch einordnend) besprochen worden ist. In dem Text wird Fröllein Braun als liebende, naive, treue, unbedarfte Geliebte dargestellt, die aber eigentlich auch ein bisschen Schuld an dem ist, was ihr Adolf getan hat. Von Julia Onken. (H.a.l.l.o.? Schreibt die sonst nicht so Beziehungsratgeber? Wäre sie nicht besser dabei geblieben?)
- Und zum versöhnlichen Abschluss noch ein Porträt eines Paares, Heiratsrubrik. Er: das Paradebeispiel eines guten schwarzen Muslimen, der doch tatsächlich arbeiten geht. "Der Islam wird im Senegal nicht so streng praktiziert wie anderswo", sagt seine Verlobte, puh, dann sind wir ja froh!

Nach dem Ende der Lektüre stellte ich fassungslos fest, dass die "Weltwoche" gleich beides fast vollständig eingebüsst hat, das sie mal auszeichnete: Die guten Texte und die Relevanz. Über die Frage, ob dafür der Sympathieträger Roger Köppel verantwortlich ist, konnte ich nicht mehr lange nachdenken, denn mein Herz blutete zu stark.

Und kurz bevor ich schliesslich verblutete, erweiterte ich noch meine Lieblingstheorie: Für unseren unheimlichen Wohlstand, den hohen Lebensstandard und das Glück, in der sauberen, tipptoppen Schweiz leben zu dürfen, zahlen wir einen Preis. Und der ist: schlechtes Radio und ungute Zeitschriften.

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PS1: Teil I der unglücklichen Liebesgeschichte "Caramel und die Magazine" hier.

PS2: "Machs doch besser!", ruft jetzt Doris aus Köniz.
", ist nicht mein Job!", singe ich da zurück, "mein Job ist Sachen hübsch oder blöd finden, und den kann ich ganz gut!"

5 Kommentare:

  1. Caramell for bundesrätin...

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  2. Schlechtes Radio? Aber wir haben ja jetzt Energy statt BE1, ist uuuu fätzig!

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  3. Musste sehr lachen - obwohls gar nicht so zum Lachen ist… 

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  4. Das entscheidende Wort dieser sehr präzisen Analyse ist "relevant". Ich lese die Weltwoche immer noch Woche für Woche, aber ich merke, wie sie langsam überflüssig wird. Noch vor zwei-drei Jahren war sie, obwohl bereits kindisch anti-mainstream, immer noch relevant, hatte sie (neben anderem) wichtige Geschichten und gute Recherchen - jedenfalls hatte ich immer Lust, sie zu lesen. Jetzt sitze ich manchmal montagmorgens im Zug, schlage sie auf und denke mir: Muss das wirklich sein? Schade drum, aber irgendwie steigert sich Köppel da in etwas rein, wo er bald relativ einsam sein wird...

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  5. Klasse geschrieben, Caramell, und der Wahrheit ziemlich nahe. Auch ich ertappte mich gelegentlich dabei, wie ich der "Weltwoche" der Neunzigerjahre nachtrauere. Damals stritten wir uns in der WG um dieses Blatt.

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